Elementarbildung ist entscheidend für den Bildungserfolg

Children playing

Mein Interview zum Thema „Gehirnforschung: Elementarbildung entscheidend für Bildungserfolg“, gestaltet von Marlene Nowotny, wurde am 24. Jänner 2023 in Ö1 ausgestrahlt.

Den weiterführenden Text zum Ö1 Kurz-Interview finden Sie hier: 

 

M.N.: Was ist Soziales Lernen? Welche Rolle spielt es im Kindergarten und dann für den späteren Wissenserwerb?

I.S-J.: Unter Sozialem Lernen versteht man Lernen im sozialen Kontext. Das heißt, wir lernen durch Beobachtung und Nachahmung, also Imitation und Emulation, sowie durch soziales Referenzieren, interpersonelle Synchronierung, gemeinsame Aufmerksamkeitsverschiebung, usw. Dabei spielen reziproke Interaktionen mit Bezugsperson(en) eine ganz wesentliche Rolle. Mit anderen Worten, Lernen ist keine Einbahnstraße vom Lehrenden zum Lernenden, sondern basiert auf ständiger wechselseitiger Interaktion der Beteiligten, also wie bei einem Ping-Pong Spiel. Die Formen des sozialen Lernens begleiten uns ein Leben lang, sind aber ganz besonders in den ersten Lebensjahren wichtig.

Lernprozesse, die in der umgebenden Sozialgemeinschaft bzw. durch Interaktion mit Rollenbildern stattfinden, sind wesentlich für fast alle weiteren Lernprozesse im späteren Leben. Ausschlaggebend hierbei ist die soziale Bindung zu Bezugspersonen, die die Entwicklungsschritte und Lernprozesse fördern. Lernen basierend auf sozialer Bindung erfolgt in mehreren Entwicklungsstufen bis zum Volksschulalter:

In den ersten Lebenswochen findet somatosensorisches Lernen durch Instinktverhalten und Prägung statt. Darunter fällt auch die Reifung der Sinne und das Entwickeln des sogenannten Körpergedächtnisses.

In den ersten Lebensmonaten findet vor allem Präferenzlernen statt, das in der Regel eine Art positive Konditionierungen zur Folge hat.

Ab dem 7./8. Lebensmonat setzt (zusätzlich zum Präferenzlernen) Aversionslernen / Vermeidungslernen ein. Mit anderen Worten, es beginnt Amygdala-abhängiges Lernen, das sich in assoziativem und emotions-abhängigem Lernen widerspiegelt.

Ab dem 2./3. Lebensjahr setzt Hippocampus-abhängiges Lernen ein. Zu dieser Form des kognitiven Lernens komplexer Lerninhalte zählen die meist untersuchten expliziten Lern- und Gedächtnisprozesse.

Ab dem 3./4. Lebensjahr kommt es zur Entwicklung der exekutiven Funktionen, z.B. Impulskontrolle, Entscheidungen treffen, Selbstregulation, usw. Die Ausreifung dieser kognitiven Fähigkeiten ist erst im frühen Erwachsenenalter abgeschlossen.

Bei all diesen Prozessen spielen Botenstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn eine Schlüsselrolle, da sie für die Stärke der Signalübertragung zwischen den Nervenzellen verantwortlich sind. Die Botenstoffe werden von sogenannten Neuromodulatoren beeinflusst, die deren Wirkung nuancieren. Zu den Neuromodulatoren zählen u.a.:

  • Dopamin: Schlüsselkomponente im Belohnungssystem, das Verlangen und Erwartungen reguliert. Es fungiert als Motivator und wird z.B. beim spielerischen Entdecken und Aha-Erlebnissen ausgeschüttet
  • Endogene Opioide: tragen zum Glücksgefühl bei und werden beim Spielen, Lachen, Singen und bei Bewegung ausgeschüttet
  • Oxytozin: oft auch „Kuschel- oder Bindungshormon“ genannt, wird bei sozialen Interaktionen, Bindungsarbeit durch die Pädagoginnen, beim gemeinsamen Spielen und Körperkontakt wie Umarmungen ausgeschüttet

Pädagogische Arbeit unterstützt das Zusammenspiel von diesen Neuromodulatoren und ermöglicht das Ineinandergreifen multipler Lernprozesse. Diese Neuromodulatoren sind auch im späteren Leben für Motivation und erfolgreiches Lernen unabdingbar.

Der Schlüssel zum Erfolg in der elementarpädagogischen Arbeit liegt in der Beziehungsarbeit. Denn Lernen ist ein sozialer Prozess, der nur dann in geeigneter Weise funktioniert, wenn eine positive, reziproke Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden vorliegt. Stabile und sichere Beziehungen stärken außerdem die Resilienz – denn Oxytozin wirkt antagonistisch zu Stresshormonen.

PädagogInnen und Bezugspersonen vermitteln soziales Lernen und schaffen damit die Voraussetzung für die Entwicklung von kognitivem Potenzial, den Erwerb von sozialen und fachlichen Kompetenzen sowie ganz allgemein einen Rahmen für Wissbegierde und Lernbereitschaft. Diese Fähigkeiten werden zu einem späteren Zeitpunkt in anderen Bildungseinrichtungen nicht mehr explizit vermittelt, sondern schlichtweg für den Wissenserwerb vorausgesetzt. Dazu zählen:

  • Lernbereitschaft durch Selbstmotivation (Belohnungserlebnisse)
  • Bereitschaft soziale Bindungen einzugehen
  • Stressregulation: weniger Schulangst und Prüfungsangst
  • Inhibitorische Kontrolle / Impulskontrolle: wichtig für Konzentration, Aufmerksamkeit, Frustrationstoleranz, Selbstdisziplin

 

M.N.: Wie sehen „hirngerechte“ Bildungsangebote im Kindergarten aus? Können sie ein, zwei Beispiele nennen? 

I.S-J.: „Hirngerecht“ ist ein Wort, das uns ein bisschen in die Irre führt. Wir bzw. unser Hirn lernt, was man anbietet – also auch Lerninhalte, die wir jetzt nicht explizit anstreben zu lernen. Beispielsweise haben Studien gezeigt, dass sich die kortikale Repräsentation des Daumens (also der mit dem Daumen assoziierte Bereich des Motorkortex) innerhalb kurzer Zeit deutlich vergrößert, wenn Probanden repetitive motorische Abläufe durchführen, wie Textnachrichten auf einem Handy schreiben. Oder wir lernen durch Angst-Konditionierung besonders effizient, deshalb ist schwarze Pädagogik leider so effizient.

Aber diese Art von „gehirngerecht“ ist ja eigentlich nicht gemeint mit Ihrer Frage. Reden wir daher besser über neurobiologisch fundiert und pädagogisch wertvoll.

Beispiel #1 Bildungsangebot in Kindergarten: Geschichten vorlesen, erzählen, kommunizieren mit verschiedenen Bezugspersonen

Der aktive Wortschatz nimmt in den ersten Lebensjahren der neurotypischen Hirnentwicklung rasant zu. Im Alter von 3 Jahren haben Kinder einen Wortschatz von bis zu > 1200 Worten. Das ist allerdings ein relativ großer Wortschatz, den Kinder nur dann besitzen, wenn viel mit ihnen gesprochen und viel vorgelesen wird. Kinder, die weniger Worte zu hören bekommen, haben einen geringeren Wortschatz (zum Teil weniger als die Hälfte). Fehlende Förderung verstärkt diesen Unterschied zunehmend, was dann in der Schule zu einem massiven Nachteil führen kann. Im schlechtesten Fall, trägt man diesen Nachteil sein Leben lang mit.

In der Literatur findet man die Bezeichnung „Million-Word Gap“, wenn es um den passiven Wortschatz der Kinder im Alter von 3 bis 4 Jahre geht. Die exakten Zahlen gehen nach Expertenmeinung auseinander, aber sehr wahrscheinlich liegt der Unterschied an der Anzahl von Worten, die Kinder aus Familien mit unterschiedlicher Bildungsaffinität hören, im Bereich von einigen Millionen Worten.

Im Kindergarten liegt ein Schwerpunkt auf der Förderung der sprachlichen Fähigkeiten. Diese Millionen-Worte-Kluft kann durch PädagogInnen, die gezielt Sprachförderung durchführen, deutlich verringert werden. Dieser Prozess findet aber auch generell in heterogenen Gruppen statt aufgrund der verbalen Vielseitigkeit von Gruppen-Interaktionen.

Beispiel #2 Bildungsangebot im Kindergarten: inhibitorische Kontrolle / Impulskontrolle

Ein wichtiger Schritt in der kindlichen Entwicklung ist das Erlernen inhibitorischer Kontrolle / Impulskontrolle. Das heißt, Kinder erwerben die Fähigkeit ihr Verhalten, ihre Emotionen und Gedanken zu regulieren. Diese kognitive Regulation, die wichtig ist um fokussiert Aufgaben zu erfüllen (erhöhte Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit), korreliert mit späteren schulischen Leistungen (in Mathematik sowie bei Lese- und Schreibfähigkeit). ElementarpädagogInnen fördern gezielt die Impulskontrolle durch klare Gruppen-Regeln (Rücksichtnahme), Spiele in der Gruppe (gemeinsame Aufmerksamkeitsverschiebung), Morgenkreis (Ausreden lassen), Puzzles / Zeichnung fertig stellen (Durchhaltevermögen) und schließlich durch altersadäquate Lernspiele (zunehmend schwierigere Herausforderungen annehmen).

Dabei ist wichtig anzumerken, dass gerade in der Elementarpädagogik nicht Konkurrenzdenken im Vordergrund steht, sondern persönliche Weiterentwicklung: das Kind verbessert sich im Vergleich dazu, was er/sie vorher konnte, nicht im Vergleich zu anderen Kindern!!

 

M.N.: Lassen sich erfolgreiche/wirksame Elementarpädagogik und deren neurobiologische Auswirkungen messen?

I.S-J.: Es gibt mittlerweile zahlreiche Studien, die belegen, dass erfolgreiche Elementarpädagogik neurobiologisch messbar ist.

Beispiel #1:

Funktionelle Magnetresonanzstudien mit Kindergartenkindern haben gezeigt, dass das Spielen eines pädagogischen Buchstaben-Sprachlaut-Verknüpfungs-Spiels, selbst wenn die Spielzeit insgesamt nur 3,6 Stunden über einen Zeitraum von 8 Wochen beträgt, zu einer Veränderung der neuronalen Aktivität in einer bestimmten Hirnregion des visuellen Systems führt, nämlich im Gyrus fusiformis.

Die getesteten Kinder hatten vor der Studie Erfahrungen mit Buchstaben gemacht, aber die Gehirnregion (Gyrus fusiformis) war vor der Studie nicht aktiv, wenn Buchstaben gezeigt wurden. Erst nach der pädagogischen Spielintervention kam es zu den neurobiologischen Änderungen. Das heißt, der pädagogisch angeleitete Lernprozess, Buchstaben mit den entsprechenden Sprachlauten zu verknüpfen, führt zu funktionellen Änderungen im Gehirn – eine Änderung, die nur durch passive Wahrnehmung nicht stattfindet.

Beispiel #2:

Säuglinge (ab einem Alter von 6 Wochen) von Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status wurden randomisiert einer Studie zugeteilt. Ein Teil der Kleinkinder erhielt 5 Jahre lang kognitiv und sprachlich anregender pädagogische Betreuung. Pädagogische Interventionen umfassten Förderungsangebote im Hinblick auf Sprachentwicklung, kognitives Training und interaktives Lernen. Im Alter von 30-40 Jahren wurden die Probanden mittels strukturellen Gehirn-MRT-Scans nochmals untersucht.

Die Analyse der Scans zeigte, dass Erwachsene, die als Kinder pädagogisch gefördert wurden, eine Vergrößerung des gesamten Gehirnvolumens, einschließlich des Kortex´, aufwiesen. Mehrere spezifische kortikale Regionen erschienen größer, wie beispielsweise beidseitig der anteriore Gyrus cinguli sowie der rechte Gyrus frontalis inferior. Der Effekt war bei Männern größer als bei Frauen.

Diese Ergebnisse bestätigen die Erkenntnisse aus Tiermodellen und zeigen die Auswirkungen sprachlicher und kognitiver Stimulation auf die Gehirnstruktur.

Beispiel #3:

Emotionale und soziale Fähigkeiten („Emotionswissen“) sind Schlüsselfähigkeiten, die Kinder bereits während ihrer Kindergartenzeit entwickeln und die eng mit sozialer Kompetenz und schulischen Leistungen zusammenhängen. Emotionswissen bezieht sich auf die Fähigkeit, Emotionen aus Gesichtern und Verhaltensweisen im sozialen Kontext zu erkennen. Eine kürzlich durchgeführte Metaanalyse von Studien mit Kindern (im Alter von 3 bis 12 Jahren) ergab, dass Schüler mit einem höheren Emotionswissen tendenziell bessere schulische Leistungen sowie eine höhere Akzeptanz durch Gleichaltrige und eine bessere Anpassung an schulische Anforderungen aufwiesen.

Eine weitere Studie testete soziale Beziehungen von 164 Kindern im Vorschulalter (Nähe der Schüler-Lehrer-Beziehungen und positive Peer-Interaktionen) und emotionale Fähigkeiten (Emotionen in Fotografien erkennen, Emotionen in Geschichten erkennen). Daten wurde jeweils zu Beginn und am Ende des Vorschuljahres erhoben.

Es zeigte sich, dass positive soziale Beziehungen (mit Lehrern und Gleichaltrigen) ausschlaggebend für einen Zuwachs an emotionalen Fähigkeiten (Identifikation, Anerkennung) während des Vorschuljahres sowie für andere kognitive Leistungen waren.

 

M.N.: Was müssen Kindergärten bieten, wie müssen sie ausgestattet sein, um das zu gewährleisten?

I.S-J.: Lassen Sie mich meine Antwort in 2 Zielsetzungen unterteilen
1. Förderung, 2. Vermeidung von Stresssituationen

  1. Kinder haben unterschiedliche Bedürfnisse, ganz besonders in alterserweiterten Gruppen, Integrationsgruppen oder Gruppen mit einem hohen Anteil an Kindern deren Muttersprache nicht deutsch ist. Aber natürlich gibt es auch in homogeneren Gruppen große individuell Unterschiede zwischen Kindern.

Idealerweise bedarf es daher einer Förderung durch multidisziplinäre Teams. Dabei gilt nicht, dass das Team jedes Kindergartens alle Fachbereiche abdecken muss. Know-how kann man sehr gut von außen hereinholen.

Optimal wäre eine Einbindung von

  • Entwicklungspsychologen,
  • Sozialpädagoginnen
  • Inklusiven Elementarpädagoginnen
  • Logopädinnen
  • Ergotherapeutinnen
  • Sonder- und Heilpädagoginnen (insb. für die Frühförderung)

Das kann natürlich nicht ein einzelner Kindergarten aufbieten. Dazu gehören zentral organisierte Kontingente, die von Kindergärten abrufbar sind.

Kinder durchlaufen Entwicklungsschritte unterschiedlich schnell, das ist ganz „normal“. Entwicklungsschritte werden „schneller“ gemacht, wenn sie gefördert oder pädagogisch begleitet werden. Man spricht vom sogenannten „Scaffolding“, also Lernen durch begleitende Hilfestellung, weil Gehirnentwicklung auf reziproken, sozialen Interaktionen basiert. Mit anderen Worten, Lernen erfordert ein ständiges Hin- und Her (wie beim Ping-Pong) zwischen Kind und Bezugsperson(en). Beim Spracherwerb ist diese Reziprozität zwischen Bezugsperson und Kind besonders gut untersucht. Aber auch in sehr vielen anderen kognitiven Bereichen braucht es diese Reziprozität um Nervenbahnen durch wiederholte Aktivierung zu stabilisieren.

  1. Vermeidung von Stresssituationen. Dafür braucht es:
  • Rückzugsmöglichkeiten
  • Bewegung, frische Luft
  • Gesundes Essen (Vitamine, Mg2+, Flavonoide [Folsäure, Vit E, Antioxidantien], etc.)
  • Multisensorische Bereiche (Snoezelen Räume: Licht- Klang-Musik- Duft-Taktile-Elemente; Räume mit Entspannungsatmosphäre)
  • AUSREICHEND ZEITRESSOURCEN der PädagogInnen

ElementarpädagogInnen sind in Österreich qualitative hoch ausgebildet. Aber sie brauchen natürlich auch die Zeitressourcen um das Wissen anwenden zu können.  Warum ist das so wesentlich? Sind nicht ausreichend Ressourcen vorhanden, kann eine Pädagogin einem Kind nicht ausreichend Zeit widmen, bedeutet das Stress – Stress für die PädagogIn, aber insbesondere Stress für das Kind. Kinder können Stress selbst noch nicht optimal regulieren. Das heißt, wenn ein Kind einer Stresssituation ausgesetzt ist (ausgelöst durch beispielsweise einem Mangel an Aufmerksamkeit oder Zuwendung, hohen Lärmpegel, Streitigkeiten ohne Lösungsansatz, usw.), dann wird die kindliche, körpereigene Stressachse (Hypothalamus, Hypophyse, Nebennierenrinde) aktiviert und es werden Stresshormone ausgeschüttet. Es kommt beispielsweise zu einer Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol aus der Nebennierenrinde, CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon) aus dem Hypothalamus, Adrenocorticotropes Hormon (ACTH) aus der Hypophyse (Hirnanhangdrüse). Die Aktivierung dieser Komponenten der Stressachse können Kinder selbst nur schwer wieder hinunterregulieren. Die Regulierung erfolgt in der Regel von außen. PädagogInnen, wissen natürlich, wie sie die Regulation von außen bewerkstelligen können: zum Beispiel durch Berührungen, Umarmungen (Oxytozin wirkt antagonistisch zu Cortisol), Bewegung an der frischen Luft (Vitamin D senkt den Cortisol-Spiegel; aerobe Bewegung senkt den Cortisol- und Adrenalin-Spiegel), Lachen (reduziert die Muskelspannung, erhöht die Sauerstoffaufnahme und erhöht die Ausschüttung von Endorphinen, also den körpereigenen Opioiden). Dazu braucht aber natürlich einen entsprechenden Betreuungsschlüssel um zunächst eine Stresssituation rasch zu erkennen und anschließend schnell regulierend eingreifen zu können. Optimal wäre ein Betreuungsschlüssel von 5-6 Kindern (im Alter von 0-3 Jahren) pro ElementarpädagogIn bzw. von 8 Kindern (im Alter von 3-6 Jahren) pro PädagogIn.

 

M.N.: Wie viele Jahre Kindergarten wären aus Sicht der Hirnforschung wünschenswert und warum?

I.S-J.: Die Frage kann man nicht mit einer quantitativen Aussage beantworten, sondern nur mit einer qualitativen. Das verpflichtende Kindergartenjahr – also zumindest 1 Jahr für alle Kinder – ist sicher sehr gut, weil es gewährleistet, dass Kinder aus allen Bevölkerungsgruppen, also auch aus jenen, die sich die Betreuung in einem Kindergarten vielleicht sonst nicht leisten könnten, die Chance zur Förderung sozialer, emotionaler, kognitiver, sprachlicher und motorischer Kompetenzen erhalten. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für den Übergang in die Schule und fängt Probleme ab, die sonst vielleicht beim Eintritt in die Schule schlagend geworden wären. Das heißt durch diese Maßnahme des verpflichtenden Kindergartenjahres entlastet die Elementarpädagogik das Grundschulsystem. Das ist ein Gewinn.

Sollen Kinder 3, 4, 5 Jahre den Kindergarten besuchen? Prinzipiell ist pädagogische Förderung im frühen, kindlichen Lebensabschnitt extrem wichtig. Im Kindesalter ist die Neuroplastizität besonders hoch. Unter Neuroplastizität versteht man Veränderungen in der Hirnanatomie und bei Hirnfunktionen, also beispielsweise die Veränderungen der synaptischen Verschaltungen zwischen den Gehirnzellen. Synapsen oder synaptische Verschaltungen sind jene Bereiche, wo Signalübertragung stattfindet und Gehirnzellen miteinander kommunizieren. Die neuroplastischen Änderungen sind die Grundlage aller Lernprozesse. Am höchsten ist die Neuroplastizität im Alter von 2-3 Jahren, nimmt dann etwas ab, wobei die neuroplastischen Prozesse weiter auf relativ hohem Niveau ablaufen bis zur Pubertät, wo es nochmals einen Peak gibt. Danach kommt es wieder zu einer Verringerung der neuroplastischen Prozesse. Neuroplastizität findet aber ein ganzes Leben lang statt, wenn auch in geringerem Ausmaß je älter wir werden. Durch die Neuroplastizität werden synaptische Verschaltungen entweder verstärkt oder abgeschwächt. Werden Reize und Erfahrungen häufig erlebt, dann kommt es zu einer Stabilisierung der synaptischen Verschaltungen. Werden bestimmte Reize oder Lerninhalte nie oder äußerst selten dargeboten, dann werden die entsprechenden Synapsen eingeschmolzen. Sie kennen wahrscheinlich den Spruch „Use it or lose it“, also „benütze es oder verliere es“, das trifft sehr gut auf die neuroplastische Gehirnentwicklung zu.

Das heißt, dass elementarpädagogische Förderung über viele Jahre hinweg, also durchaus bereits in den ersten 2 Lebensjahren beginnend, einen großen Vorteil darstellen kann. Denn elementarpädagogische Arbeit bietet Kindern vielfältigen Input zusätzlich zu den gewohnten und natürlicherweise begrenzten Informationen und Lerninhalten durch die Eltern. Gerade heute, wo Familien oft nur auf die Kernfamilie von 3-4 Personen beschränkt sind, ist es ein großer Nutzen für Kinder mit anderen sozialen Impulsen in Kontakt zu kommen.

Aber dazu braucht es die vorher angesprochene Qualität. ElementarpädagogInnen sind exzellent ausgebildet, aber sie brauchen natürlich auch die Zeitressourcen um ihr Wissen anwenden zu können.

Als Faustregel gilt natürlich, je jünger die Kinder, desto größere Anzahl an PädagogInnen und BetreuerInnen sind notwendig. Nur so kann eine altersadäquate Förderung gewährleistet werden.

Daher sehe ich die Frage nach der Anzahl der zu empfehlenden Kindergartenjahre nicht als eine, die die Hirnforschung beantworten kann. Diese Frage fußt vielmehr auf volkswirtschaftlichen Entscheidungen, nämlich im Bezug auf die Berufstätigkeit von Frauen. Wollen wir, dass Frauen in der Berufswelt die gleichen Möglichkeiten und Chancen wie Männer haben? Dann muss die Bildungspolitik die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Diese Diskussion überlasse ich Experten aus dem Bereich der Bildungspolitik sowie der Wirtschafts- und insbesondere der Arbeitsmarktpolitik.

https://science.orf.at/stories/3217277/

 

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