Psychoedukative Ansätze zum Thema Retraumatisierung

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Peter Sarto zum Fall #Teichtmeister mit dem wichtigen Hinweis, dass ein Gerichtsprozess auch immer das Risiko einer Retraumatisierung des Opfers birgt. Für Betroffene kann es hilfreich sein, die zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen, wie Gedächtnisinhalte gebildet, konsolidiert und abgerufen werden, zu verstehen.

 

Gedächtnis

Unser Gedächtnis funktioniert anders als ein Computer, auch wenn man diesen falschen Vergleich immer wieder liest. Denn unser Gehirn speichert Gedächtnisinhalte nicht als exakte Kopien des Erlebten ab. Das heißt, unser Gedächtnis ist nicht fehlerfrei – das wäre viel zu energieaufwändig und auch kontraproduktiv für Umlernprozesse – sondern evolutionär gut angepasst an die Umgebung, in der wir aufwachsen. Unwichtige, alltägliche Informationen (die keine Gefahr für uns darstellen) werden aufgrund fehlender Aufmerksamkeit oder Geistesabwesenheit nicht gespeichert oder sehr schnell wieder vergessen. Das ist evolutionär sinnvoll, denn Vergessen ist die Voraussetzung für ein gut funktionierendes Gedächtnis – man erinnert sich nur an die wesentlichen Dinge im Leben.

Neuroplastische Prozesse, funktionelle und anatomische Veränderungen im Gehirnb bilden die Grundlage für Lernen und Gedächtnis. Hierbei werden laufend neue synaptische Verbindungen zwischen neuronalen Bahnen bzw. Netzwerken herstellt und alte Verbindungen „überschrieben“. Nervenbahnen, die häufig benutzt werden, besitzen verstärkte, synaptischen Verbindungen, während jene, die selten oder nicht benutzt werden, abgeschwächte oder eingeschmolzene Verbindungen aufweisen. Tritt letzterer Fall ein, vergessen wir die entsprechenden Informationen.

 

Emotionale Gedächtnisinhalte

Eine Ausnahme zu diesem Prozess des Vergessens bilden wichtige Ereignisse, die emotional kodiert werden. Das betrifft Erlebnisse, die ganz wesentlich zum Überleben beitragen. Befindet man sich in einer Gefahrensituation oder in einem intensiven Gefühlszustand werden relevante Informationen für lange Zeit und sehr detailreich abgespeichert. Beispielsweise erinnern sich Unfallopfer häufig an viele Einzelheiten des Unfallhergangs und haben den Eindruck, dass das lebensbedrohliche Ereignis sehr viel länger gedauert hat, als es tatsächlich der Fall war. Das liegt daran, dass in Gefahrensituationen auch die Reizschwelle für sensorische Wahrnehmungen herabgesetzt ist und sehr viel mehr Einzelheiten registrieren werden.

Darüber hinaus werden die Details des Ereignisses langfristig gespeichert aufgrund einer starken Aktivierung der Amygdala, einer Hirnregion, die wichtig für die emotionale (nicht nur, aber insbesondere, für die Angst-) Verarbeitung ist. Die Amygdala kodiert die Stärke der Gedächtnisinhalte und trägt dazu bei, dass überlebenswichtige Informationen nicht durch dynamische, neuroplastische Prozesse überschrieben werden. Die emotionale Kodierung von Gedächtnisinhalten wirkt damit dem Vergessen entgegen.

Es ist allerdings ebenso wichtig zu erwähnen, dass besonders bedrohliche Details einer traumatischen Erfahrung häufig gar nicht im Gedächtnis abgespeichert werden. Die Ursache hierfür findet sich in der überschießenden Reaktion von Stresshormonen im Körper während dieses Stresszustandes. Ein Überschuss an Stresshormonen, wie beispielsweise Cortisol, interferiert mit der Entstehung neuer synaptischer Verschaltungen und kann der Bildung von Gedächtnisinhalten entgegenwirken.

 

Die Rolle des Hippocampus

Der Hippocampus ist eine Hirnregion, die wesentlich für Lernen, Gedächtnis sowie für räumliche und zeitliche Orientierung ist. Diese Region trägt dazu bei, dass mittels neuroplastischer Prozesse, Informationen „geordnet“ und vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis übertragen werden. Diese Ordnung ermöglicht es, dass auf Gedächtnisinhalte zugegriffen werden kann indem die für die Information relevanten neuronale Netzwerke aktiviert werden.

 

Traumatisch Erfahrungen

Gespeicherte, stark emotional gefärbte Erinnerungen können bereits durch kleine Auslöser wieder ins Bewusstsein treten. In der Regel geschieht das für die Betroffenen sehr plötzlich und unregulierbar. Dabei werden die gleichen neuronalen Netwerke aktiviert, die während der Gedächtnisspeicherung beim Erleben des Traumas aktiv waren. Allerdings gehen intensive, detailreiche Erinnerungen oft gleichzeitig mit Erinnerungslücken einher. Das heißt, die neuronalen Netzwerke werden zwar aktiviert, sind aber nicht im weiteren kognitiven Kontext eingebettet. Normalerweise findet eine Hippocampus-vermittelte Zuordnung episodischer Erinnerungen statt, die das autobiografische Gedächtnis in Relation zu dem autonoetischen (subjektiven) Bewusstsein für Zeit setzt. Bei traumatischen, intrusiven Erinnerungen funktioniert die zeitliche Zuordnung des hochemotionalen Gedächtnisinhaltes nicht. Der Betroffene durchlebt die traumatische Situation so als würden die bedrohlichen Geschehnisse gerade eben nochmals real stattfinden.

Das Phänomen der nicht inhibierten und fragmentierten Erinnerungen – also der unkontrollierten, detaillierten, emotionalen Gedächtnisinhalte neben klaffenden Gedächtnislücken – hat zur Folge, dass eine situationsgerechte Bewertung durch das Bewusstsein erschwert wird. Deshalb können bei traumatisierten Menschen zahlreiche Reize als unbewusste Trigger fungieren.

 

Retraumatisierung

In manchen Fällen können bei Menschen mit Traumaerfahrungen bereits bewältigte Symptome reaktiviert und das ursprüngliche Trauma vertieft werden. Bei einer Retraumatisierung wird das Trauma neu durchlebt und die traumatischen Reaktionen vermischen sich mit aktuellen Wahrnehmungen und Gedächtnisinhalten. Das heißt, es werden synaptischen Verschaltungen bestehender neuronaler Netzwerke verstärkt und mit neuen Netzwerken verknüpft. Dadurch kann es zur akuten Verschlimmerung des Krankheitsbildes kommen.

 

Psychoedukation

Psychoedukation kann helfen, dass Betroffene sich ihrer unbewussten Trigger bewusst werden, sie lernen zu vermeiden und dadurch gleichzeitig einer Retraumatisierung vorbeugen.

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